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Ein frischer Blick auf das Unservater

Oft gebrauchte Worte können sich abnutzen, auch jene des Unservaters. Sie werden leer und machen das Beten, im stillen Kämmerlein wie in der Gemeinschaft, kraftlos. Über das Aramäische, der Muttersprache von Jesus, erschliesst sich ein ganz neuer Sprachraum, der uns die Zunge lösen kann.

Das Unservater, wie es in Matthäus 6,9-13 steht, ist zweifelsohne der bekannteste Text, der auf Jesus zurückgeht und uns zeigt, «wie wir beten sollen». Darin ähnelt es anderen Gebeten, die aus der hebräischen Tradition hervorgehen, und zwar mit drei Elementen: Lob, Bitte und der Sehnsucht nach dem anbrechenden Reich Gottes. Es besteht aus einer Anrede und sechs Bitten, die als eine Art Untertitel unser eigenes Beten anleiten.

Bibelwissenschaftler können sich darüber ereifern, welche Bedeutung Jesus dem Unservater geben wollte. Die einen verstehen es bloss «existentiell» und beziehen es auf die gegenwärtige Erfahrung des Menschen im alltäglichen Leben. Andere wollen es strikt «eschatologisch» interpretieren und beziehen es auf das kommende Reich Gottes dereinst in der neuen Welt. Unlängst hat auch Papst Franziskus bezüglich der Versuchungsbitte für Diskussionen gesorgt. Es sei nicht Gott, der in Versuchung führe. Vielmeher führe er durch die Versuchung. Zudem ist das Jesus-Gebet durch tausendfachen liturgischen Gebrauch für viele abgedroschen und hohl geworden.

All dies hat nicht nur mich dem liturgischen und persönlichen Gebet abspenstig gemacht. Dennoch habe ich mich damit nicht abgefunden, sondern lechzte buchstäblich nach lebendigem Wasser in der spirituellen Wüste. Ich suchte und suchte, bis ich eines Tages eine Entdeckung machte: die Welt des Aramäischen, der Muttersprache von Jesus. Nach und nach konnte ich meine eigene Sprachlosigkeit überwinden und einen neuen Zugang zum Unservater, dem Beten überhaupt, finden. Es waren authentische Gelehrte wie Dr. Neil Douglas-Klotz, die Jesus als Mystiker, als “Propheten aus der Wüste”, neu vorgestellt haben. Durch inspirierende Formulierungen haben sie einen Sprachraum erschlossen, in dem sich der Ewige Schöpfer neu zeigen kann.

Aramäisch ist eine Umgangssprache. Sie verhält sich zum Hebräischen wie das Zürichdeutsche, ein schweizer Dialekt, zum Hochdeutschen. Die Eigenheit des Aramäischen als semitische Sprache besteht darin, dass sie verschiedene Bedeutungsebenen hat. So eröffnet jedes einzelnee Wort ein vielschichtiges poetisches Feld. Besonders eindrücklich wird dies am Beispiel des Wortes für Geist (ruha): Es beschreibt einerseits die sinnlich wahrnehmbaren Elemente wie Wind, Atem und Hauch. Andererseits weist es auf die dynamische Lebenskraft des Ewigen Schöpfers hin, die alles durchdringt und nur den inneren Sinnen, biblisch gesprochen: dem Herzen, zugänglich ist. Wer darüber meditiert und sich diesen Reichtum zu eigen macht, kann buchstäblich ein Sprachwunder erleben.

Aus verschiedenen Quellen habe ich nachfolgende Übertragung des Unservaters formuliert. Es lohnt sich auf jeden Fall, diese neue Gestalt auswendig zu lernen und beispielsweise jeden Wochentag unter eine Bitte zu stellen: Der Sonntag als erster Tag der Woche gilt dem heiligen Atemzug, der Freiraum schafft in der Mitte unseres Lebens. Der Montag ist bestimmt von der Sehnsucht, das Herz möge zum Tempel des schöpferischen Feuers werden. Am Dienstag öffnen wir uns dem Handeln aus Mitgefühl, indem wir das wollen, was wir sollen. Am Mittwoch lenken wir den Blick auf den nächsten Schritt, auf das, was wir als Teil des irdischen Lebens gerade jetzt brauchen. Am Donnerstag bitten wir um Vergebung, wo wir uns verrannt habe, indem wir ebenfalls loslassen, was uns verstrickt. Am Freitag kehren wir zurück zum Wesentlichen und bitten um Befreiung vom Bösen in jeglicher Gestalt. Am Samstag, dem Tag der Ruhe (Shabbat), widmen wir uns ganz dem Ewigen Schöpfer, dem Vater allen Seins und der Mutter allen Lebens.

Dem Leser wünsche ich nun frischen Wind und belebende Einsichten für das eigene Beten. Wer sich dem Aramäischen selbst, der Muttersprache von Jesus, nähern möchte, den verweise ich auf meinen Blogartikel Das aramäische Vaterunser.

O Erzeuger des Kosmos, Gebärerin des Lebens/atmendes Leben in allem, Ursprung des schimmernden Klanges.

Du scheinst in uns und um uns, /selbst die Dunkelheit leuchtet, wenn wir uns erinnern.

Hilf uns einen heiligen Atemzug zu atmen /bei dem wir nur Dich fühlen – /und Dein Klang in uns erklinge und uns reinige.

Lass Deinen Rat unser Leben regieren /und unsere Absicht klären für die gemeinsame Schöpfung.

Möge der brennende Wunsch Deines Herzens /Himmel und Erde vereinen durch unsere Harmonie.

Gewähre uns täglich, was wir an Brot und Einsicht brauchen: /das Notwendige für den Ruf des wachsenden Lebens.

Löse die Stränge der Fehler, die uns binden, /wie wir loslassen, was uns bindet an die Schuld anderer.

Lass Oberflächliches uns nicht irreführen, sondern befreie uns von dem, was uns zurückhält.

Aus Dir kommt der allwirksame Wille /die lebendige Kraft zu handeln / das Lied, das alles verschönert /und sich von Zeitalter zu Zeitalter erneuert.

Wahrhaftig – Lebenskraft diesen Aussagen! /Mögen sie der Boden sein, aus dem all unsere Handlungen erwachsen.

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